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Frontex-Bericht: Gewalt und Folter – an EU-Grenzen ist alles möglich


Nach Frontex-Bericht
Gewalt, Rechtsbrüche, Folter: An den EU-Grenzen ist alles möglich

MeinungVon Erik Marquardt (Grüne)

Aktualisiert am 15.07.2021Lesedauer: 4 Min.
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Frontex-Beamte in der Ägäis: Im EU-Parlament haben Parlamentarier Vorwürfe gegen die EU-Grenzschutzbehörde untersucht.Vergrößern des Bildes
Frontex-Beamte in der Ägäis: Im EU-Parlament haben Parlamentarier Vorwürfe gegen die EU-Grenzschutzbehörde untersucht. (Quelle: Dan Kitwood/getty-images-bilder)

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex verschleiert Menschenrechtsverletzungen und täuscht die Öffentlichkeit. Das muss nun dringend Konsequenzen haben.

An den EU-Außengrenzen werden Menschen systematisch illegal zurückgewiesen, geschlagen, gefoltert und auf dem Meer ausgesetzt. Menschen ertrinken, weil Notrufe nicht beantwortet werden und islamistische Milizen werden mit EU-Geldern bezahlt, um die Flucht aus dem Bürgerkriegsland Libyen zu verhindern. Dass die staatlich organisierte Menschenrechtsverletzung an den EU-Außengrenzen inzwischen die Oberhand hat, wurde in dutzenden Artikeln recherchiert. Es gibt Fotos, Videos, Augenzeugenberichte und Betroffene.

Vor allem in Griechenland hat sich die Situation im vergangenen Jahr verschärft. Es gibt keinen Zweifel mehr, dass Geflüchtete schutzlos und in Seenot auf dem Meer ausgesetzt werden, dass Menschen ohne rechtsstaatliches Verfahren und mit Gewalteinwirkung abgeschoben werden und dass das keine Missgeschicke, sondern das Ziel von einigen EU-Staaten ist.

(Quelle: privat)


Erik Marquardt ist Europaabgeordneter und asylpolitischer Sprecher für Bündnis90/die Grünen und Mitglied der Frontex-Untersuchungsgruppe des Europäischen Parlaments. Bevor er MdEP wurde, arbeitete er als Fotograf und berichtete über Fluchtwege nach Europa. Marquardt hat aktiv an Seerettungsmissionen im Mittelmeer teilgenommen. Am 20. Juli erscheint sein Buch "Europa schafft sich ab" im Rowohlt Verlag.

Um die Abschottung durchzusetzen, sind EU-Regierungen nicht nur bereit die Würde und Grundrechte von Menschen zu brechen, sie belügen darüber auch uns Abgeordnete im Europäischen Parlament. Das wurde jetzt nochmal in einer viermonatigen Untersuchung der Frontex-Untersuchungsgruppe deutlich, deren Mitglied ich bin und deren Bericht an diesem Donnerstag vorgestellt wurde.

Propagandashow der griechischen Regierung

In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020 überflog ein Aufklärungsflugzeug von Frontex das östliche Mittelmeer und beobachtete dort, wie Schutzsuchende von einem Schiff der griechischen Küstenwache gerettet wurden. Das Küstenwachenschiff zieht ein leeres Schlauchboot hinter sich her. Zwei Stunden später beobachtet ein Frontex-Flugzeug, wie die Schutzsuchenden auf das leere Schlauchboot gebracht werden und der Motor des Bootes abmontiert wird. Ein Schnellboot mit maskierten Männern wartet bereits und zieht das manövrierunfähige Schlauchboot in türkische Gewässer. Ein türkisches Boot ist nicht in der Nähe, die Menschen werden auf dem Wasser zurückgelassen. In einem geleakten Bericht von Frontex sind die Ereignisse detailliert festgehalten.

Die griechische Regierung behauptet in einer erschreckenden Propagandashow unermüdlich, dass alle Berichte über Pushbacks durch Griechenland von der Türkei gefälscht wurden und verschweigt, dass auch Frontex solche Einsätze auf Video festgehalten hat. Doch in unseren Sitzungen der Untersuchungsgruppe des EU-Parlaments wurde auch deutlich, dass es immer schwieriger wird, das Verhalten der griechischen Grenzbehörden zu überwachen. Menschenrechtsorganisationen wurde verboten, in der Ägäis aktiv zu sein und selbst Frontexflugzeuge und Schiffe wurden immer wieder aufgefordert, den Einsatzort zu verlassen, um nicht mehr beobachten zu können, wie die illegalen Zurückweisungen stattfinden.

Wozu braucht man diese Agentur?

Die Frontex-Luftüberwachung wurde im Mai 2020 vollständig eingestellt. Nach einer glaubhaften Begründung, die einen anderen Schluss zulässt, als dass das Wegschauen der Verschleierung von Menschenrechtsverletzungen dient, sucht man vergebens. Frontex wird derzeit mit vielen Milliarden Euro ausgestattet und soll ein stehendes Heer von 10.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bekommen. Da passen Berichte über Menschenrechtsverletzungen, bei denen Frontex wegschaut, nicht in die Planung.

Auch wenn Teile von Frontex in einigen Fällen auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen wollten, zeigt sich, dass überall dort, wo es Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen gibt, Frontex wegschaut, Tatsachen verdreht und Einsätze abbricht, um ja keine öffentlich zugänglichen Informationen über die Verbrechen zu generieren. Wozu braucht man diese Agentur, wenn sie überall dort, wo Einsätze stattfinden, weggeschickt wird?

Nur fadenscheinige Begründungen

Frontex dient nicht zur effektiven und menschenrechtskonformen Grenzkontrolle, sondern dazu, die Menschenrechtsverletzungen zu verschleiern. Berichte werden verzögert oder vernichtet, rechtliche Einschätzungen verdreht und der Exekutivdirektor Fabrice Leggeri erzeugt in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass alles in bester Ordnung sei. Und er behauptet allen Ernstes, dass Geflüchtete auf Schlauchbooten einfach freiwillig wieder in die andere Richtung fahren, weil ihnen auf dem Wasser plötzlich einfällt, dass sie doch kein Asyl beantragen wollen. Mit solch absurden Schutzbehauptungen wird versucht, Pushbacks zu verschleiern. Dazu kommen Vorwürfe von Missmanagement und Korruption in der EU-Agentur, weswegen auch die EU-Antibetrugsbehörde gegen Frontex ermittelt.

Die griechische Regierung versucht derweil – auch wegen der erdrückenden Beweislage – ihre Strategie der Leugnung zu ergänzen. Inzwischen werden die Pushbacks nicht mehr geleugnet, sondern es wird behauptet, sie seien rechtens. Das offensichtlich Illegale könnte ja vielleicht doch legal sein. Gerichtsurteile, die Jahre bis zur Entscheidung brauchen, kann man ja erstmal abwarten. So behauptete der griechische Migrationsminister kürzlich, dass man jedes Recht habe, Schlauchboote abzufangen und die Rechtsgrundlage dafür in der EU-Seeaußengrenzenverordnung (Verordnung (EU) Nr. 656/2014) niedergeschrieben sei. Dass das Abfangen nur möglich ist, wenn niemand auf einem Schlauchboot Asyl beantragen möchte und selbst dann die Menschen erstmal an Land gebracht werden müssten, bevor man sie an die Behörden des Herkunftsstaates übergeben kann, scheint ihn nicht zu interessieren.

Frontaler Angriff auf die Menschenwürde

Und so wird zum 70. Geburtstag der Genfer Flüchtlingskonvention nicht nur der Kern des internationalen Asylrechts – das Nichtzurückweisungsgebot – in Europa tagtäglich außer Kraft gesetzt. Auch die Würde von Menschen auf der Flucht und andere grundlegende Menschenrechte werden frontal angegriffen.

Die EU-Kommission vermeidet Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, die eine schnellere Rechtsprechung herbeiführen könnten. EU-Regierungen, die diese Entwicklung öffentlich kritisieren, sucht man vergebens. Auch die deutsche Bundesregierung lässt Innenminister Seehofer gewähren, der sich an der Verschleierungstaktik beteiligt und im Frontex-Verwaltungsrat die Aufklärung behindert.

Frontex-Chef verhindert Aufklärung

Fabrice Leggeri hat uns Abgeordnete des Europäischen Parlaments mehrfach belogen und verhindert aktiv eine Aufarbeitung der Fälle. Trotzdem halten die EU-Mitgliedsstaaten an ihm fest. Wenn die EU-Mitgliedsstaaten wirklich eine Verbesserung bei Frontex wollen, dann müssen sie wenigstens einen neuen Exekutivdirektor einsetzen. Doch momentan sieht es so aus, als würden sie eher darauf hinarbeiten, dass man sich an die immer neuen Skandale beim Grenzschutz gewöhnt.

Oft wird behauptet, die EU könne sich nicht auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen. Beim genaueren Blick auf die Außengrenzen wird das Gegenteil deutlich. Die EU-Staaten haben sich auf eine Politik geeinigt – es ist nur keine rechtsstaatliche oder humane Politik. Sie entwürdigt Menschen und sorgt für viele Tote im Mittelmeer. Das Ziel ist die Senkung der Asylantragszahlen – koste es, was es wolle – und seien es Menschenleben.

Mit dieser Politik wird nicht nur die Würde von Menschen auf der Flucht angegriffen, sondern auch die Grundsätze unserer liberalen Demokratien. Wenn Gesetze egal werden, wenn Regierungen Tatsachen leugnen, dann ist man auf gefährlichen Abwegen. An den Außengrenzen wird auch entschieden, wie es um unsere Demokratie und Grundrechte bestellt ist. Denn wie wir mit den Schwächsten umgehen, zeigt, wie stark wir sind.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung des Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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